Zuhinterst im Scarltal – da wo aufhört jeder andere Wald – an einem Hang gen Osten stehen etliche sehr alte Arven, von Alter und Stürmen zerfetzt.“ So beschreibt Peider Lansel, Dichter aus Pisa und ein unermüdlicher Streiter für den rätoromanischen Spracherhalt, 1923 ein knorriges, eigensinniges Gehölz tief in den Bergen des Unterengadin.
Wer den God da Tamangur im November sucht, muss Zeit mitbringen. Und Schneeschuhe. Man erreicht ihn nur zu Fuß, und der Weg ist weit, da hinter ins Scarltal, verborgen unter einer unberührt weißen Decke. Das Lauteste an diesem stillen Wintertag ist der Wanderer selbst, weil jedem seiner Schritte das Knirschen des harschigen Schnees folgt, als ginge einer hinter ihm her. Gut vier Stunden dauert es so vom Ofenpass im Süden, bis man über die Passhöhe der Funtana da S-charl Europas höchstgelegenen Arvenwald erreicht. Auf 86 streng geschützten Hektar erstreckt sich hier, zwischen 2100 und 2300 Meter Meereshöhe, der God da Tamangur, dessen mystisch umhauchter Name auf Deutsch ungleich schlichter „der Wald da hinten“ bedeutet.
Pinus cembra, die Zirbelkiefer, wächst langsam, doch wenn man sie lässt, wird sie bis zu 20 Meter hoch und kann 700 Jahre und mehr überdauern. Selbst hier oben, wo der Wind die knorrigen Äste krumm bläst und sich jeder Zweig dem bisschen Sonne im Süden zureckt. Mindestens 40 Jahre dauert es, bis eine Arve ihre ersten Zapfen trägt, wenn sie nicht vorher Lawinen, Stein- oder Blitzschlägen zum Opfer fällt. Aus ihrem rötlichen, intensiv duftenden Holz kann man nicht nur Schnitzwerk machen und klassisch alpenländische Möbel, sondern ganze Einrichtungen wie die hier im Engadin allgegenwärtigen Zirbenstuben. Selbst jetzt, in der metallisch kalten Luft des späten Novembertages, kann man das harzige Aroma der Bäume noch erahnen, auch wenn das Holz in Winterstarre steht und die überall verstreuten Zapfen längst leer sind; die „Zirbelnüsse“ in den Bäuchen und Vorratskammern von Eichhörnchen und Arvenhähern verschwunden. Bis zu 10 000 solcher Verstecke legt ein einzelner Vogel für den Winter an, und die meisten, heißt es, findet er wieder. Die vergessenen werden zu Wald. Dabei machte man einst ausgerechnet den schlauen Vogel für das Schwinden der Arve verantwortlich; als den „größten Arvenschädling“ schimpft der Botaniker Martin Rikli den armen Kerl 1909; einen „schlimmen Räuber“ nennt ihn der zweite große Arvendichter von Tamangur, Domenic Feuerstein, noch 1939, muss allerdings kurz darauf selbst zugeben, dass „der Häher, trotz seiner elenden Verschwendungssucht, ein recht nützlicher Vogel ist“. Heute ist der Häher, der außerhalb des Engadins Tannenhäher heißt, als „gefiederter Förster“ rehabilitiert. Tatsächlich schuld am Rückgang der Bestände war, was Wunder, der Mensch, der die bedächtig wachsenden Bäume zu Brennmaterial und Nutzholz verarbeitete und weite Flächen dem Vieh zuliebe rodete. „Abwärts ging’s dann mit Tamangur“, konstatiert Lansel.
Peider Lansel wies gerade rechtzeitig auf das Schicksal des God da Tamangur hin, als er das damals sterbende „Überbleibsel eines Waldes“ vor knapp 100 Jahren mit einem mahnenden Siebenstropher besang und damit den zeitgleichen Niedergang des „Rumantsch“ beklagte. Teilweise mit Erfolg: Das Rätoromanische ist heute immerhin eine von vier Schweizer Amtssprachen und der einsame Wald ein vor Abholzung und Beweidung geschütztes Naturreservat, das vom Menschen weitgehend unbehelligt gedeiht; freilich wie das Romanische auch „aus dem einstigen, weiten Raum in die heutigen, engsten Grenzen zurückgedrängt“. Nicht einmal ganz zwei Kilometer lang ist das eigentliche, von einem schmalen Pfad durchzogene Kerngebiet des Waldstücks, im Norden begrenzt von der verfallenden Alp Tamangur Dadora („Außer-Tamangur“), im Süden von dem bis heute genutzten Stall Tamangur Dadaint („Inner-Tamangur“).
Wer auf Lansels Spuren heute das Zwiegespräch sucht mit dem nur scheinbar in Winterschlaf gefallenen Gehölz in grauer Borke, der braucht Geduld. Und er muss hinhören, auf das leise Hämmern eines Spechts, auf das Gurgeln der Clemgia unten im Tal, das Rauschen des eisigen Windes in den krummen Wipfeln. Und auf die Stille, die jetzt, im Winter, wenn hier oben alles unter einer makellosen Schneedecke ruht, besonders intensiv ist und jedes Geräusch in sich einschließt.
Dann kann es sein, dass man den God da Tamangur, den Wald da hinten, leise flüstern hört, von alten Zeiten und unbeugsamen Gesellen. Auf Rumantsch natürlich, wie sonst.