Zum Tag des Baumes: Eine Wanderung zu Europas höchstgelegenem Arvenwald

Da, wo sich Fuchs und Arvenhäher Gute Nacht sagen: eine Wanderung zu Europas höchstgelegenem Arvenwald, dem God da Tamangur im Unterengadin.
Arvenwald Tamangur Val Scharl
Das wilde Val S-charl südlich von Scuol ist die Heimat des uralten Arvenwaldes von Tamangur. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts steht das Gebiet unter Schutz, 2007 wurde es zum Naturwaldreservat erklärt. Hin kommt man nur zu Fuß – von Norden über S-charl oder aus südlicher Richtung von Lü oder dem Ofenpass.Peter Moser-Kamm

Das wilde Val S-charl südlich von Scuol ist die Heimat des uralten Arvenwaldes von Tamangur. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts steht das Gebiet unter Schutz, 2007 wurde es zum Naturwaldreservat erklärt. Hin kommt man nur zu Fuß – von Norden über S-charl oder aus südlicher Richtung von Lü oder dem Ofenpass.

Peter Moser-Kamm

Zuhinterst im Scarltal – da wo aufhört jeder andere Wald – an einem Hang gen Osten stehen etliche sehr alte Arven, von Alter und Stürmen zerfetzt.“ So beschreibt Peider Lansel, Dichter aus Pisa und ein unermüdlicher Streiter für den rätoromanischen Sprach­erhalt, 1923 ein knorriges, eigensinniges Gehölz tief in den Bergen des Unterengadin.

Wer den God da Tamangur im November sucht, muss Zeit mitbringen. Und Schneeschuhe. Man erreicht ihn nur zu Fuß, und der Weg ist weit, da hinter ins Scarltal, verborgen unter einer unberührt weißen Decke. Das Lauteste an diesem stillen Wintertag ist der Wanderer selbst, weil jedem seiner Schritte das Knirschen des harschigen Schnees folgt, als ginge einer hinter ihm her. Gut vier Stunden dauert es so vom Ofenpass im Süden, bis man über die Passhöhe der Funtana da S-charl Europas höchstgelegenen Arvenwald erreicht. Auf 86 streng geschützten Hektar erstreckt sich hier, zwischen 2100 und 2300 Meter Meereshöhe, der God da Tamangur, dessen mystisch umhauchter Name auf Deutsch ungleich schlichter „der Wald da hinten“ bedeutet.

Peider Lansel

Pinus cembra, die Zirbelkiefer, wächst langsam, doch wenn man sie lässt, wird sie bis zu 20 Meter hoch und kann 700 Jahre und mehr überdauern. Selbst hier oben, wo der Wind die knorrigen Äste krumm bläst und sich jeder Zweig dem bisschen Sonne im Süden zureckt. Mindestens 40 Jahre dauert es, bis eine Arve ihre ersten Zapfen trägt, wenn sie nicht vorher Lawinen, Stein- oder Blitzschlägen zum Opfer fällt. Aus ihrem rötlichen, intensiv duftenden Holz kann man nicht nur Schnitzwerk machen und klassisch alpenländische Möbel, sondern ganze Einrichtungen wie die hier im Engadin allgegenwärtigen Zirbenstuben. Selbst jetzt, in der metallisch kalten Luft des späten Novembertages, kann man das harzige Aroma der Bäume noch erahnen, auch wenn das Holz in Winterstarre steht und die überall verstreuten Zapfen längst leer sind; die „Zirbelnüsse“ in den Bäuchen und Vorratskammern von Eichhörnchen und Arvenhähern verschwunden. Bis zu 10 000 solcher Verstecke legt ein einzelner Vogel für den Winter an, und die meisten, heißt es, findet er wieder. Die vergessenen werden zu Wald. Dabei machte man einst ausgerechnet den schlauen Vogel für das Schwinden der Arve verantwortlich; als den „größten Arvenschädling“ schimpft der Botaniker Martin Rikli den armen Kerl 1909; einen „schlimmen Räuber“ nennt ihn der zweite große Arvendichter von Tamangur, Domenic Feuerstein, noch 1939, muss allerdings kurz darauf selbst zugeben, dass „der Häher, trotz seiner elenden Verschwendungssucht, ein recht nützlicher Vogel ist“. Heute ist der Häher, der außerhalb des Engadins Tannenhäher heißt, als „gefiederter Förster“ rehabilitiert. Tatsächlich schuld am Rückgang der Bestände war, was Wunder, der Mensch, der die bedächtig wachsenden Bäume zu Brennmaterial und Nutzholz verarbeitete und weite Flächen dem Vieh zuliebe rodete. „Abwärts ging’s dann mit Tamangur“, konstatiert Lansel.

Den hochalpinen Arvenwald bestimmt ein langsamer Wechsel von Werden und Vergehen – mindestens 40 Jahre lang muss die unbeugsame „Königin der Alpen“ wachsen, bis sie die ersten Zapfen trägt.

Peter Moser-Kamm

Peider Lansel wies gerade rechtzeitig auf das Schicksal des God da Tamangur hin, als er das damals sterbende „Überbleibsel eines Waldes“ vor knapp 100 Jahren mit einem mahnenden Sie­benstropher besang und damit den zeitgleichen Niedergang des „­Rumantsch“ beklagte. Teilweise mit Erfolg: Das Rätoromanische ist heute immerhin eine von vier Schweizer Amtssprachen und der einsame Wald ein vor Abholzung und Beweidung geschütztes Naturreservat, das vom Menschen weitgehend unbehelligt gedeiht; freilich wie das Romanische auch „aus dem einstigen, weiten Raum in die heutigen, engsten Grenzen zurückgedrängt“. Nicht einmal ganz zwei Kilometer lang ist das eigent­liche, von einem schmalen Pfad durch­zogene Kerngebiet des Waldstücks, im Norden begrenzt von der verfallenden Alp Tamangur Dadora („Außer-Tamangur“), im Süden von dem bis heute genutzten Stall Tamangur Dadaint („Inner-­Tamangur“).

Wer auf Lansels Spuren heute das Zwiegespräch sucht mit dem nur scheinbar in Winterschlaf gefallenen Gehölz in grauer Borke, der braucht Geduld. Und er muss hinhören, auf das leise Hämmern eines Spechts, auf das Gurgeln der Clemgia unten im Tal, das Rauschen des eisigen Windes in den krummen Wipfeln. Und auf die Stille, die jetzt, im Winter, wenn hier oben alles unter einer makellosen Schneedecke ruht, besonders intensiv ist und jedes Geräusch in sich einschließt.

Dann kann es sein, dass man den God da Tamangur, den Wald da hinten, leise flüstern hört, von alten Zeiten und unbeugsamen Gesellen. Auf Rumantsch natürlich, wie sonst.

Wind und Wetter verleihen den uralten Bäumen ein oft eigenwilliges Profil. Wipfelbrüche durch Stürme oder Blitzschläge sind häufig und nur selten das Ende der zähen Gewächse, die meist neue Triebe bilden und zu eindrucksvollen „Wetterbäumen“, knorrig-krummen Skulpturen der Berge, weiterwachsen.

Peter Moser-Kamm

Das Holz abgestorbener Recken liegt Jahrzehnte, bevor es im Nährstoffkreislauf des Waldes aufgegangen ist.

Peter Moser-Kamm

Ein schmaler Pfad führt in Nord-Süd-Richtung mitten durch das dichte Gehölz. Zumindest im Sommer – im Winter lässt sich der Weg nur anhand der unzähligen Tierspuren erahnen. Der God da Tamangur bildet ein einzigartiges und ebenso lebendiges wie fragiles Ökosystem, das dem harschen Klima zu trotzen weiß.

Andreas Kühnlein
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